Silver Niinemets hat seit 72 Stunden nicht geschlafen. Schweiß steht auf seiner Stirn. In Camouflage kniet er zwischen Butterblumen und knöchelhohem Gras, ein Gewehr über der Schulter, eine Pistole im Gurt. Niinemets sieht aus wie einer, der aus dem Krieg kommt. Dabei ist es nur ein Spiel:
Die Schlacht im Osten Estlands, gut 20 Kilometer hinter dem Peipussee, der das Baltikum von Russland trennt, ist keine wirkliche, sondern Teil eines der härtesten Hobby-Militär-Wettbewerbe der Welt.
Silver Niinemets ist eigentlich Trompeter und bespielt Opernsäle und Konzerthäuser. Nur einmal im Monat verwandelt er sich in einen Soldaten. Dann geht er zum Kämpfen in den Wald. Freiwillig. Um die Verteidigung Estlands zu proben:
26000 Menschen sind bei »Kaitseliit« organisiert. So heißt die Estnische Verteidigungsliga, die als Reserve der Streitkräfte des 1,3-Millionen-Einwohner-Staates dient. Der Großteil der Mitglieder trainiert wie Silver Niinemets mit den bewaffneten Einheiten. Die anderen bei der »Frauenheimwehr« oder den Jugendorganisationen: die »Heimattöchter« und die »Jungen Adler«, eine Art militarisierter Pfadfinder.
Bei einigen Esten gelten ihre Mitglieder als rechte Aktivisten. In der Satzung Kaitseliits steht, die Organisation sei unpolitisch. Die Mitglieder sind allesamt Zivilisten wie der Trompeter Silver Niinemets oder der Unternehmensentwickler Rain-Alari Külm. Am Ende sind es vor allem zwei Dinge, die sie alle eint: die Liebe zu Estland und die Angst vor dem übermächtigen Nachbarn im Osten. Russland:
Woher kommt diese Angst in einem Land, das seit 2004 Mitglied der EU und Teil der Nato ist? Allein im Baltikum und Polen hat die Nato mehr als 4800 Soldaten zusätzlich zu den nationalen Truppen stationiert, knapp 900 davon in Estland.
Erst im April 2018 hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, die militärische Unterstützung für die baltischen Staaten zu erhöhen: 100 Millionen Dollar mehr für Munition. 70 Millionen mehr für Trainingszwecke. Aber die Angst sitzt tief:
Als Kleinstaat wie Estland hast du immer das Gefühl, dass du international nicht mehr bist als der Bauer in einem Schachspiel«, sagt Andres Kasekamp. Der kanadische Politikwissenschaftler mit estnischen Wurzeln lehrt Osteuropastudien an der University of Toronto. »In Estland geht diese Angst historisch zurück auf den Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen den Nazis und den Sowjets, der Osteuropa in zwei Einflusssphären geteilt hat.«
1918 wird Estland unabhängig. Während der Unruhen im November desselben Jahres wird Kaitseliit gegründet, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Das Trauma Estlands beginnt 21 Jahre später, am 28. September 1939: Im Sommer hatten Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufgeteilt. Jetzt erlaubt die estnische Regierung auf Druck der Sowjetunion der Roten Armee, Militärbasen auf estnischem Grund zu errichten.
Im Frühjahr folgt die Annexion – fast kampflos ergibt sich die junge Republik. Das nahe Finnland, das sich den Russen im sogenannten Winterkrieg widersetzt, bleibt unabhängig. Die Folgen sind verheerend: In den ersten Monaten werden Tausende Esten in Arbeitslager deportiert. Auch die gesamte Führungsriege von Kaitseliit kommt entweder in Lager oder wird noch an Ort und Stelle hingerichtet.
Einige der verbliebenen Kämpfer gehen in den Untergrund. Später unterstützen sie die Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion und in Teilen die SS bei der Deportation der estnischen Juden. Die Nazis werden damals von vielen Esten in erster Linie als Befreier gesehen. Die heutigen Kaitseliit-Mitglieder allerdings inspiriert eher die Zeit nach 1945, als die Partisanen, die sich Wald-Brüder nennen, einen Guerillakampf gegen die erneute sowjetische Besatzung führen:
Noch bevor Estland im Jahr 1991 seine Unabhängigkeit erlangt, wird Kaitseliit im Jahr 1990 wiedergegründet. Anfangs noch skeptisch beäugt, gelangt die Organisation in den Jahren 2007 und 2008 zu neuer Popularität.
Rain-Alari Külm, der eigentlich als Unternehmensentwickler bei der estnischen Post in Tallinn arbeitet, meldet sich damals freiwillig als Kämpfer:
Als Wladimir Putin im Jahr 2014 die Krim annektiert, steht auf einmal auch Estland im Fokus der internationalen Öffentlichkeit: Etliche Journalisten schlagen in der estnisch-russischen Grenzstadt Narva auf, die zu 80 Prozent von Russen bewohnt wird. Die Kommentatoren fragen: »Is Narva next?«
Mehr als vier Jahre ist das nun her. 110000 Soldaten haben die Russen an ihrer westlichen Grenze zu Estland, Lettland, Weißrussland und Polen stationiert. Einige Male haben die Esten seitdem gemeldet, dass russische Kampfjets in ihren Luftraum eingedrungen sind. Es gab Hacker-Angriffe, mutmaßlich aus Russland. Die Zahl der Kaitseliit-Mitglieder ist seitdem weiter gestiegen. Aber ob sie im Ernstfall tatsächlich einsatzfähig wären?
Etwa 60 Stunden bräuchte die russische Armee, um mit Truppen die baltischen Hauptstädte Tallinn und Riga zu erreichen. Das schätzt der Thinktank »Rand Corporation« im Jahr 2016 nach einer Truppensimulation.
Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir uns verteidigen könnten, dann wäre ich nicht hier«, sagt Rain-Alari Külm. Er meint: Lieber das Leben geben im Kampf um die Freiheit, als ein zweites Mal kampflos unterzugehen wie 1939.
Wer viel Zeit mit den Aktivisten von Kaitseliit verbringt, der bekommt schnell den Eindruck, eine russische Invasion stehe kurz bevor. Wie konkret ist aber die Bedrohung tatsächlich?
Emily Ferris forscht am unabhängigen Thinktank »RUSI« in London zu Russlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik: »Russland geht es in erster Linie darum, Geheimdienstinformationen und Informationen über die militärischen Kapazitäten der Nachbarländer zu sammeln, wie es alle anderen Großmächte auch tun«.
Ob aus Estland eine zweite Krim wird? Das glaubt Ferris nicht. »Die Furcht vor Russland ist nachvollziehbar, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Russland die baltischen Staaten angreift, geht gegen null. Der Unterschied zwischen Ukraine und Estland besteht darin, dass Estland Mitglied der Nato ist«, sagt sie. »Und mit der Nato will sich Russland nicht anlegen.«
In den vergangenen Jahren hat sich bei einigen Kämpfern von Kaitseliit zu der Angst vor Russland noch eine weitere aufgebaut: die Angst vor dem Zerfall der Europäischen Union. Denn für die meisten Bürger der baltischen Staaten ist die EU bis heute ein Projekt der Hoffnung – und ein Versprechen von Frieden und Freiheit.
Auch für Silver Niinemets, den 23-jährigen Trompeter. In diesem Jahr wird er ein Erasmus-Studium in Belgien beginnen:
An all das denkt Silver Niinemets nicht, als er im jahrhundertealten Gemäuer des Pirita-Klosters in Tallinn steht. In deren Mitte ist eine riesige Bühne für das anstehende Opernfestival aufgebaut. Niinemets wartet auf seinen Auftritt.
Nichts an ihm erinnert mehr an den jungen Mann, der sieben Tage zuvor 72 Stunden schlaflos mit 30 Kilo Gepäck und völlig verdreckt im Ziel der Militär-Challenge auf die Knie sank.
Autor Bartholomäus von Laffert
Kamera, Fotos und SchnittMoritz Richter, Paul Lovis Wagner
Grafik Cornelia Pfauter
Gestaltung & Programmierung Lorenz Kiefer
Dokumentation Anika Zeller
Schlussredaktion Birte Kaiser, Dörte Karsten
Redaktion Birgit Großekathöfer, Jens Radü
Zusätzliche Fotos:
REUTERS, GENYA SAVILOV / AFP, DPA, SZ-PHOTO
Für das Projekt „Festung Osteuropa“ waren der Reporter Bartholomäus von Laffert und die Fotografen Moritz Richter und Paul Lovis Wagner im August und September 2018 für den SPIEGEL sieben Wochen entlang der östlichen EU-Außengrenze unterwegs. Finanziell unterstützt wurde die Recherche vom Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und vom Journalistenstipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, unterstützt wurde das Projekt außerdem vom internationalen Journalistennetzwerk n-ost.