Niemals mittelmäßig
Die Nacht vor der Hochzeit: Dorothy Bakers faszinierender Roman Zwei Schwestern.
Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Dtv; 280 Seiten; 19,90 Euro.
Von Claudia Voigt

Dorothy Bakers Roman Zwei Schwestern, geschrieben vor mehr als 50 Jahren, ist eine Wiederentdeckung – und was für eine: Cassandra Edwards studiert in Berkeley französische Literatur, in ihrem Apartment steht noch der Bösendorfer-Flügel, auf dem ihre Zwillingsschwester Judith spielte. Bis vor neun Monaten lebten Cassandra und Judith hier zusammen, doch Judith ist nach New York gezogen, nun will sie heiraten. Cassandra ist maßlos gekränkt. Heiraten? Das ist ein fauler Kompromiss für Menschen, die mittelmäßig sind. Ihre Schwester und sie fühlen sich als etwas Besonderes, in diesem Glauben haben ihre Eltern sie großgezogen. Sie wird Judith umstimmen müssen, nur deshalb lässt Cassandra für ein Wochenende ihre Analytikerin in San Francisco zurück und kehrt der Golden Gate Bridge den Rücken, deren eleganter Schwung sie daran denken lässt, wie leicht es wäre, hinunter- zuspringen. Die Schwestern begegnen sich im Elternhaus. Und was sich in der Nacht vor der Hochzeit zuträgt, liest sich wie ein Psychodrama der Extraklasse. Selbst in guten Büchern ist ein so faszinierender Charakter wie Cassandra Edwards selten zu finden.