Therapie zwecklos
In ihrem besten Roman Schmerz verbindet Zeruya Shalev den Terror und die Liebe in Israel.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag; 384 Seiten; 24 Euro.
Von Claudia Voigt

An jenem Morgen, an dem die Detonation Iris aus dem Auto auf die Straße schleuderte, hatte ihre Tochter sie gebeten, ihr einen Zopf zu flechten: »Mama, mach mir einen französischen Zopf.« War deshalb die Tochter schuld an Iris' Unglück? Vorher noch hatte der Sohn getrödelt, er war auf einem Bett herumgehopst und hatte sich auf der Toilette eingeschlossen, die Familie war deshalb spät dran. Alles wegen des Sohnes? Eigentlich wäre es die Aufgabe von Iris' Ehemann gewesen, die Kinder zur Schule zu bringen. Doch er, ein IT-Techniker, hatte früh am Morgen einen Anruf aus dem Büro bekommen, »das System« sei abgestürzt. Die Schule lag auf seinem Arbeitsweg, aber an jenem Morgen wollte er auffällig dringend ins Büro, ging es wirklich um ein Computerproblem? Iris fragte sich, ob er in der Nacht zu Hause gewesen war, sie hatte fest geschlafen und es nicht registriert. Alles seinetwegen? Als Zeruya Shalevs Roman Schmerz einsetzt, sind zehn Jahre vergangen seit dem Attentat, bei dem Iris schwer verletzt wurde. Jeder aus der Familie trägt sich seitdem mit dem Gefühl, schuld zu sein. Das hat die Beziehungen zueinander verändert, es überschattet das Familienleben genau wie der Schmerz, der sie immer wieder überfällt, obwohl die Brüche und Wunden längst verheilt sind. Für ein Attentat tragen nur die Attentäter die Verantwortung. Doch es scheint schwer zu sein, diese einfache Wahrheit als Opfer zu akzeptieren. Shalev wurde vor fast zwölf Jahren selbst bei einem Anschlag in Jerusalem verletzt. Bis heute, so erzählt sie, erinnere sie sich genau an jene Umwege durch den Park, die sie am Morgen des Tages nahm. Die Frage danach, warum jemand in jener Sekunde am falschen Ort ist, scheint wie ein Fluch zu sein. Shalevs fünfter Roman erzählt davon, was es bedeutet, in Israel zu Hause zu sein. Es ist ihr bisher bester. Das Buch ist mit jener emotionalen Intensität geschrieben, die Shalevs Prosa von jeher auszeichnete. Iris trifft nach vielen Jahren die große Liebe ihres Lebens wieder, Eitan Rosenfeld. Als sie noch eine junge Frau war, verließ er sie unerwartet. Iris heiratete zwar und bekam Kinder, aber sie wurde nie den Gedanken los, ihre Tochter habe den falschen Vater, sie hätte die Tochter Eitan Rosenfelds sein sollen. Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Mann mittlerweile ein berühmter Schmerztherapeut ist. Auf der Suche nach einem Arzt, der die Schmerzen lindern kann, die sie seit dem Attentat plagen, trifft Iris ihn wieder. Der Roman ist auch ein Nachdenken darüber, ob verpasste Chancen in der Liebe nachgeholt werden können, ob die Vergangenheit zu korrigieren ist. Iris' Biografie kann man auch lesen als Kettenreaktion auf die politischen Ereignisse: Mit vier verlor Iris ihren Vater, der im Jom-Kippur-Krieg fiel. Das Attentat weckte diese Verlusterfahrung. Weil sie dabei schwer verletzt wurde, erhielt Iris einen Job als Schulleiterin, sie arbeitete hart, sie wollte beweisen, dass sie der Aufgabe gewachsen ist, und vernachlässigte darüber ihre Familie. Es ist ihre Tochter, die Iris am Ende begreifen lässt, dass das Leben aus der Perspektive der Gegenwart betrachtet werden muss. Das Familienleben, und das Leben in einem Land wie Israel.