Wahn und Wirklichkeit
Der Historiker Nicholas Stargardt untersucht in Der deutsche Krieg, wieso die Deutschen Hitlers Spiel so lange mitgespielt haben.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. S. Fischer; 848 Seiten; 26,99 Euro.
Von Elke Schmitter

Philipp Jenninger ist 1988 an der Beantwortung von Fragen gescheitert, die Nicholas Stargardt nun wieder stellt: Was machte die übergroße Mehrheit der Deutschen zu Nazis oder Mitläufern. Warum hielten sie bis zuletzt zu ihrem Führer? Wie konnten sie die Gewissheit, an einem Völkermord teilzuhaben, so wirksam verdrängen? Die Antworten, die der Bundestagspräsident in seiner performativ missglückten Rede – er trat am Tag darauf von seinem Amt zurück – gab, unterscheiden sich kategorial nicht von denen, die der in Oxford lehrende Historiker Stargardt nun gibt. Er wertete Tagebücher und Briefe von gläubigen Nazis aus, aber auch von Opfern und von 'ganz normalen Deutschen'; 25 Männer und Frauen insgesamt. Viele seiner Befunde sind im Detail nicht überraschend, in ihrer Gesamtschau aber faszinierend: Stargardt untersucht die Wirkung der Propaganda, welche erfolgreich die Legende des Verteidigungskriegs in die deutsche Welt setzte und in unermüdlicher Perfidie am Leben erhielt. Er analysiert die Loyalität vieler Soldaten als eine, die weniger dem Vaterland als dem Familienschicksal galt – die Söhne standen in jenen Gräben, in denen ihre Väter den letzten Krieg verloren hatten, und nicht wenige waren der Überzeugung: Wir müssen jetzt siegen, damit ein Ende mit allen Kriegen gemacht werden kann. Er schildert die wachsende Angst vor Vergeltung, die sich verdichtende Vision vom »jüdischen Terror«, der in Form des Alliiertenkriegs zurückkomme – und wie diese Gefühle und kollektiven Wahnvorstellungen die Bindung an den Führer noch stärkten. Und er widmet luzide Passagen der Metaphernpolitik des »Dritten Reichs": Formeln wie »Sein oder Nichtsein«, »alles oder nichts« oder »Sieg oder Untergang« und Begriffe wie »Endlösung« und »Unheil«, die in ihrem Zusammenspiel die Vorstellung einer Opfergemeinschaft intensivierten. Insgesamt bringt Stargardt so etwas Eindrucksvolles zuwege: eine Innenschau der nationalsozialistischen Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs, die erklärt, ohne zu verklären, und die in ihrer Verbindung der Darstellung historischer Fakten und ihres individuellen und kollektiven Erlebens im besten Sinne historische Aufklärung betreibt – beunruhigend und erhellend zugleich.